Hallo Calendula,
bei jedem wirkt sich Aphasie anders aus. Manch einer lernt das Schreiben z.B. nie wieder, andere haben die Fähigkeit gar nicht verloren. Wenn ich eines gelernt habe dann das, dass selbst Neurologen mit ihrer Einordnung was den Aphasietyp angeht daneben liegen können und Prognosen sind sowieso für den Popo. Und vieles ist auch im Fluss.
Bei meinem Mann hatte man mir nach 4 Monaten Reha mit auf den Weg gegeben: "gehen Sie davon aus, dass ihr Mann sich sprachlich nicht mehr weiter entwickeln wird".
Mh ja.. ein halbes Jahr später war mein Mann aufgrund seines schweren epileptischen Anfalls und den daraus resultierenden Rückschritten im motorischen Bereich erneut in der gleichen Rehaeinrichtung (lies sich dank Corona leider nicht vermeiden). Der gleiche Arzt, der mir das damals gesagt hatte war ob der Entwicklung meines Mannes ziemlich überrascht. Ja klar, er spricht bis heute selten vollständige Sätze, Kommunikation ist nach wie vor manchmal mühsam und es kommt zu Missverständnissen, aber es geht deutlich mehr als vor ein paar Monaten. Unschön ist, dass er nach wie vor Ja und Nein nicht immer korrekt einsetzt. Meist wenn er müde oder geistig stark gefordert ist. Dann muss man noch mal nachhaken.. dann klappt auch das.(nervig ist es trotzdem)
Dass Du heute schon die Sprichwörter vervollständigen lassen kannst ist mehr, als das was mein Mann nach der ersten Reha zu leisten in der Lage war. Bildkarten waren bei meinem Mann damals ein echtes Trauerspiel - mit 2 Karten war er bereits überfordert. Lesen war mehr ein Raten als ein Wissen. Übrigens übt mein Mann bis heute nicht gerne mit mir wenn sich das Übung nennt. Aber wenn ich das Ganze in den Alltag einbinde, dann geht da sehr viel und er hat Freude daran.
Klar, Du hast keine Möglichkeit Alltag zu leben. Aber wie wäre es, wenn Du mit Deiner Mutter singst. Ja.. singen. Die meisten Aphasiker können beim Singen die Texte von sich geben. Mir wurde vom Logopäden in der Reha erklärt, dass hier die andere Gehirnhälfte, die für die Emotionen zuständig ist, den geschädigten Sprachbereich unterstützt. Ob das richtig ist kann ich nicht sagen (dieser Logopäde war keine wirklich "Koryphäe") aber dass es funktioniert, das weiß ich sicher. Dieser Logopäde hatte damals diese Singerfolge als "hilft nicht gegen Aphasie" abgetan, die Logopädin die danach kam konnte das gar nicht nachvollziehen. Und Recht hatte sie, denn für meinen Mann war es schon ein riesen Erfolg und ein tolles Gefühl seine Stimme mal wieder zu hören.
Marmor, Stein und Eisen bricht... das beherrscht jeder. Selbst die, die sonst nicht singen. Mein Mann war glücklicher Weise früher sehr textsicher (sicherer als ich) und außerdem auch mal ne Zeit lang als Musiker aktiv, mit ihm gehen auch ziemlich viele alte Volkslieder. Weihnachtslieder müssten bei den meisten Menschen auch klappen - oder Kinderlieder. Marmor, Stein ... das singen wir gerne beim Kochen.. mit viel Torööööö, laut, manchmal falsch, aber mit viel Spass. Versuch's. Ein Lied ansingen das Deine Mutter sicher kennt, und dann mitten im Text stoppen und fragen.. weisst Du den Text weiter (und die Melodie weiter summen). Oder erst einmal gemeinsam eine Melodie summen und dann sachte mit dem Text anfangen..
Das "Vater unser" ging bei meinem Mann ab der Phase "Sprichwörter vervollständigen" auch ziemlich gut.
Hast Du schon etwas von "Anlauthilfe" gehört und wie das eingesetzt werden kann? Auch das zu nutzen wäre einen Versuch wert.
Hat denn Lesen schon etwas funktioniert? Falls ja, dann vielleicht mal die Bildzeitung mit bringen und die Überschriften lesen lassen. Und... ach so.. Wörter bilden mit Scrabbel. D.h. Du suchst die Buchstaben für ein kurzes Wort heraus, legst im ersten Versuch einige Afangsbuchstaben und gibst ihr die übrigen Buchstaben zum vervollständigen. Auch wenn es lange dauern mag, so lange sie nicht frustriert wirkt.. versuchen lassen.
Spiele im Allgemeinen sind gut für die Konzentration und das hilft auch beim Logopädietraining. (also unbedingt Hirnleistungstraining anstreben - B 8552 Umbr.001-141 (therapeutische-motorikspiele.de)). Memory (erst mal aufgedeckt Paare bilden lassen - mit wenigen Kartenpaaren beginnen. Dann steigern), oder Mensch ärgere Dich nicht, oder 4 gewinnt, oder Domino. Du musst ausprobieren was geht. Memory habe ich in der Reha begonnen, gleich zu Beginn als er in einer sehr schlechten Verfassung war. 4 Paare aufgedeckt sollte er zusammen bringen. Das dauerte 1,5 Std., unterbrochen von Schlafphasen. Am nächsten Tag der gleiche Versuch... da ging das schon schneller. Am Ende der Reha hat er mich manchmal beim Memory, regulär gespielt, geschlagen. Ich sollte aber ergänzen... er kann's heute nicht mehr sehen .
Sofern die Motorik funktioniert... Puzzles. Am Anfang halt die für Kleinkinder (große und wenige Teile).
Seitdem mein Mann das Lesen langsam für sich entdeckt liest er gerne Kinderkurzgeschichten. Er mochte so etwas aber schon immer gerne und findet das nicht albern. Geschichten halt mit einfachen Sätzen.
Was mich stutzig machen würde sind die Schmerzen die Deine Mutter im Rollstuhl hat. Was ist die Ursache? Wo genau entstehen die Schmerzen? Was unternimmt die Physio dagegen? Das ist doch kein Dauerzustand. Werden mit Ihr Übungen für den Oberkörper im Bett gemacht? Was kann sie eigenständig bewegen?
Hast Du schon mal die Blutwerte Deiner Mutter bezüglich B12 + D3 bestimmen lassen?
Jetzt habe ich ganz viel geschrieben. Was ich aber eigentlich sagen wollte, und nicht geschrieben habe, ist: Lass' den Kopf nicht hängen, habt Zuversicht, vertraue auf die Neuroplastizität des Gehirns! Die paar Monate sind doch noch gar keine Zeit.
Neuroplastizität - Institut Ruth Mischnick (i-rm.org)